Dialektik des Glücks in Texten von Franz Kafka / Dreyer, Konrad. - (2023 Jul 13), pp. 1-272. [10.15168/11572_382969]

Dialektik des Glücks in Texten von Franz Kafka

Dreyer, Konrad
2023-07-13

Abstract

Nach dem Glück in Texten von Franz Kafka zu fragen, erscheint als Wagnis. Sowohl beim Blick auf die Protagonisten seiner Erzählungen und Romane als auch in den Aphorismen, Tagebucheinträgen und Briefen stellt sich bei Kafka eher das Gegenteil von Glück dar: vergebliche Anstrengungen und ein verzweifeltes Streben nach unerreichbaren Zielen. „Man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen“, schreibt Kafka selbst in einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak und erteilt dem Glück eine klare Absage. Statt Büchern, die uns glücklich machen, brauchten wir „die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück“. Dennoch scheint die Frage nach dem Glück, die in der Kafka-Forschung bislang nur am Rande Beachtung gefunden hat, berechtigt. Immerhin soll Kafka den Dichter gegenüber Gustav Janouch als „Glücksucher“ bezeichnet haben. Klar ist, dass eine entsprechende Untersuchung keinesfalls die Suche nach einem naiven, märchenhaften Glück meinen kann. Vielmehr geht es um ein dialektisches Glück, das auf paradoxe Weise immer schon in gleitender Verbindung mit dem Unglück steht. Eine Dialektik des Glücks wirkt bei Kafka auf mehreren Ebenen. Im interkulturellen Spannungsfeld bezogen auf Erfahrungen der Fremdheit gegenüber der jüdischen Herkunft sowie der Sprache zeigt sie sich genauso wie in der Reflexion über die eigene Schriftstellerexistenz als einem Schreiben zwischen Glück und Unglück. Auch in den Liebesbriefen ist Glück nur als Versprechen sichtbar, das nicht eingelöst wird. Nicht zu trennen von einer Dialektik des Glücks bei Kafka ist die Frage nach den Möglichkeiten von Erkenntnis, die Kafka vor dem Hintergrund des Sündenfallmythos verhandelt. Die Problematik um die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis, wie Sabina Kienlechner sie in ihrer wegweisenden Untersuchung „Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas“ darlegt, ist auch für das Verständnis einer Dialektik des Glücks entscheidend. Denn das Projekt stützt sich auf die These, dass das explizit und implizit beschriebene Streben nach Erkenntnis bei Kafka gleichbedeutend mit einem Streben nach Glück ist. Die Unmöglichkeit von Erkenntnis ist dabei jedoch – ganz der paradoxen Struktur der dargelegten Denkweise folgend – nicht deckungsgleich mit einer Unmöglichkeit von Glück. Aufs Engste damit verbunden ist die Frage nach möglicher Erlösung, die in direkter Umgebung des Glücks zu verortet ist. Erlösung muss dabei unbedingt dialektisch aufgefasst werden, was die Nähe des Glücks zum Tod unterstreicht, der Kafkas Romane und Erzählungen vielfach beherrscht. Mit Blick auf die Eschatologie sind dabei auch jüdisch-christliche Einflüsse und Traditionen ernst zu nehmen, wenngleich Kafka nicht als religiöser Schriftsteller gelten kann. Die bereits genannten Überlegungen spielen implizit eine wichtige Rolle, wenn anhand ausgewählter Texte bestimmte Motivkomplexe genauer beleuchtet werden, die mit einer Dialektik des Glücks in Verbindung stehen. Anhand des Romanfragments Der Verschollene soll untersucht werden, auf welche Weise sich die (Anti-)Helden in den „pervertierten Märchen“ Kafkas dem Glück anzunähern versuchen, das sich schließlich als dialektisch erweisen muss. Darüber hinaus soll Orten des Glücks nachgespürt werden, wobei sich diese bei Kafka selbstredend in ein unerwartetes Gewand kleiden – etwa in das der Isolation. Möglichkeiten eines körperlichen Glücks in Erwägung zu ziehen, scheint aufgrund Kafkas bekanntermaßen schwierigen Verhältnisses zum eigenen Körper zunächst abwegig. Dennoch erscheint es lohnend, sich über die Motive des Essens und Hungerns den Möglichkeiten eines asketischen Glücks bis hin zu Selbstauflösung anzunähern und sogar ein Glück im Sport in Erwägung zu ziehen. Nicht zuletzt wird die Komik als Raum für das Glück erprobt. So werden anhand einer dialektischen Denkbewegung Spuren des Glücks in den Texten Kafkas sichtbar gemacht, die neue Perspektiven auf das Werk ermöglichen.
13-lug-2023
XXXV
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Lettere e filosofia (29/10/12-)
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