Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde in der Wissenschaft die Kategorie ‚ritueller Krieg‘, unter der man meistens einen Grenzkonflikt verstand, der mit bestimmten Kampfregeln und mit besonderen Ritualen ausgetragen wurde, oft angewandt; danach hat jedoch die Anthropologie diese Kategorie mehr und mehr in Frage gestellt. Sowohl in der Ozeanistik als auch in der Afrikanistik erkennt man mittlerweile, dass Konflikte, die früher als ‚rituelle Kriege‘ interpretiert worden waren, einfach Konflikte waren, deren rituelle Merkmale mehr oder weniger unbewusst, mehr oder weniger intentional von denen, die sie beschrieben haben, überbetont worden sind. Heute ist man der Auffassung, dass bei der Behandlung der Frage der rituellen Charakterisierung bestimmter Kriege die intentionale Geschichte Berücksichtigung finden soll: mit intentionaler Geschichte meint man diejenigen Vorstellungen von Vergangenheit, die gerade für die Identität einer Gruppe wesentlich, und deshalb gegenwartsbedingt, sind, und sowohl Selbstverständnis als auch Fremdwahrnehmung prägen, und die deshalb auf übernommenen aber dauernd umdeuteten Traditionen beruhen Auch beim Studium der griechischen Geschichte, insbesondere der archaischen Epoche, fand die Kategorie ‚ritueller Krieg‘ häufig Anwendung, und dies vereinzelt bis in die heutigen Tage. Tatsächlich ist die Charakterisierung bestimmter Kriege im antiken Griechenland als rituell auf den Einfluss der Traditionen, die erfinden, zurückzuführen. Obgenannte These gilt auch für die thessalisch-phokischen Kriege und für all jene Auseinandersetzungen, in denen Thessaler und Phoker im Rahmen umfassender Bündnisse gegeneinander kämpfen (somit auch für die Heiligen Kriege). Die Traditionen über diese Konflikte sind tatsächlich reich an Berichten über List und Betrug, Raubüberfälle und Verbrechen, die von Individuen begangen wurden, deren Verhalten als jenes eines Schwarzen Jägers deutbar ist (man denke nur an das Schicksal der phokischen Anführer); über nächtliche Angriffe (die Nacht des Schwarzen Jägers, des Krypten, des Anti-hopliten); über Kriegstaktiken, die als antihoplitische und/oder ‚wilde‘ beschrieben werden (von einem feralis exercitus vollzogen); über vom Orakel heranbeschworene Kämpfe zwischen Sterblichen und Unsterblichen, eine interessante Parallele zu ‚sabbatischen‘ Mythen und Rituale, die in Europa für das Mittelalter sowie für die Renaissance und die Moderne belegt sind; über das Opfer des phokischen Volks, das nach dem unerwarteten Sieg jedoch zur Wiedergeburt wurde (Tod und Wiedergeburt des Ethnos), ein Opfer, das an das nationale (phokische) Fest der Elaphebolia erinnert, wovon die hier analysierten Ereignisse aition sind und die zu Ehren von Artemis in ihrer Eigenschaft als Kourotrophos erbracht werden; über die nicht unwichtige Rolle, die in diesem Feste Kinder und Jugendliche spielen. Diese Aspekte spielen nicht in re, in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit, sondern auf der Ebene des imaginaire, der Denkmodelle, eine wichtige Rolle: sie sind Elemente der intentionalen Geschichte der thessalisch-phokischen rituellen Kriege. Die thessalisch-phokischen Konflikte wurden in der mündlichen Überlieferung wohl deswegen als rituelle Kriege beschrieben, da deren Darstellungen identitätsstiftend für die Phoker wirkten. Interessant sind aber auch die Formen der Wechselbeziehung zwischen den Erfindungsprozessen der phokischen Ethnogenese und jenen der thessalischen, die in Bezug auf die thessalisch-phokischen Konflikte interagieren. Die Erfahrung der Begegnung mit der Alterität ändert mindestens teilweise di anfänglichen Vorstellungshorizonte mit folgender Umdeutung der Bilder vom Eigenen und vom Fremden, und Identität und Alterität offenbaren sich direkt und wechselseitig in der Komunikation und im Verständnis und in der Übersetzung der Handels- und Denkweisen und führen dazu, sich wieder zu positionieren und sich umzuinterpretieren; jede Begegnung mit der Alterität verursacht deshalb Veränderungen auf beiden Seiten.

Formen der Identitätsprägung in der Traditionsbildung über die thessalisch-phokischen Konflikte / Franchi, Elena. - (2011), pp. 13-14. (Intervento presentato al convegno Netzwerktagung der Humboldt-Stipendiaten tenutosi a Tübingen nel 5-7.10.2011).

Formen der Identitätsprägung in der Traditionsbildung über die thessalisch-phokischen Konflikte

Franchi, Elena
2011-01-01

Abstract

Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde in der Wissenschaft die Kategorie ‚ritueller Krieg‘, unter der man meistens einen Grenzkonflikt verstand, der mit bestimmten Kampfregeln und mit besonderen Ritualen ausgetragen wurde, oft angewandt; danach hat jedoch die Anthropologie diese Kategorie mehr und mehr in Frage gestellt. Sowohl in der Ozeanistik als auch in der Afrikanistik erkennt man mittlerweile, dass Konflikte, die früher als ‚rituelle Kriege‘ interpretiert worden waren, einfach Konflikte waren, deren rituelle Merkmale mehr oder weniger unbewusst, mehr oder weniger intentional von denen, die sie beschrieben haben, überbetont worden sind. Heute ist man der Auffassung, dass bei der Behandlung der Frage der rituellen Charakterisierung bestimmter Kriege die intentionale Geschichte Berücksichtigung finden soll: mit intentionaler Geschichte meint man diejenigen Vorstellungen von Vergangenheit, die gerade für die Identität einer Gruppe wesentlich, und deshalb gegenwartsbedingt, sind, und sowohl Selbstverständnis als auch Fremdwahrnehmung prägen, und die deshalb auf übernommenen aber dauernd umdeuteten Traditionen beruhen Auch beim Studium der griechischen Geschichte, insbesondere der archaischen Epoche, fand die Kategorie ‚ritueller Krieg‘ häufig Anwendung, und dies vereinzelt bis in die heutigen Tage. Tatsächlich ist die Charakterisierung bestimmter Kriege im antiken Griechenland als rituell auf den Einfluss der Traditionen, die erfinden, zurückzuführen. Obgenannte These gilt auch für die thessalisch-phokischen Kriege und für all jene Auseinandersetzungen, in denen Thessaler und Phoker im Rahmen umfassender Bündnisse gegeneinander kämpfen (somit auch für die Heiligen Kriege). Die Traditionen über diese Konflikte sind tatsächlich reich an Berichten über List und Betrug, Raubüberfälle und Verbrechen, die von Individuen begangen wurden, deren Verhalten als jenes eines Schwarzen Jägers deutbar ist (man denke nur an das Schicksal der phokischen Anführer); über nächtliche Angriffe (die Nacht des Schwarzen Jägers, des Krypten, des Anti-hopliten); über Kriegstaktiken, die als antihoplitische und/oder ‚wilde‘ beschrieben werden (von einem feralis exercitus vollzogen); über vom Orakel heranbeschworene Kämpfe zwischen Sterblichen und Unsterblichen, eine interessante Parallele zu ‚sabbatischen‘ Mythen und Rituale, die in Europa für das Mittelalter sowie für die Renaissance und die Moderne belegt sind; über das Opfer des phokischen Volks, das nach dem unerwarteten Sieg jedoch zur Wiedergeburt wurde (Tod und Wiedergeburt des Ethnos), ein Opfer, das an das nationale (phokische) Fest der Elaphebolia erinnert, wovon die hier analysierten Ereignisse aition sind und die zu Ehren von Artemis in ihrer Eigenschaft als Kourotrophos erbracht werden; über die nicht unwichtige Rolle, die in diesem Feste Kinder und Jugendliche spielen. Diese Aspekte spielen nicht in re, in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit, sondern auf der Ebene des imaginaire, der Denkmodelle, eine wichtige Rolle: sie sind Elemente der intentionalen Geschichte der thessalisch-phokischen rituellen Kriege. Die thessalisch-phokischen Konflikte wurden in der mündlichen Überlieferung wohl deswegen als rituelle Kriege beschrieben, da deren Darstellungen identitätsstiftend für die Phoker wirkten. Interessant sind aber auch die Formen der Wechselbeziehung zwischen den Erfindungsprozessen der phokischen Ethnogenese und jenen der thessalischen, die in Bezug auf die thessalisch-phokischen Konflikte interagieren. Die Erfahrung der Begegnung mit der Alterität ändert mindestens teilweise di anfänglichen Vorstellungshorizonte mit folgender Umdeutung der Bilder vom Eigenen und vom Fremden, und Identität und Alterität offenbaren sich direkt und wechselseitig in der Komunikation und im Verständnis und in der Übersetzung der Handels- und Denkweisen und führen dazu, sich wieder zu positionieren und sich umzuinterpretieren; jede Begegnung mit der Alterität verursacht deshalb Veränderungen auf beiden Seiten.
2011
Tagungsband Netzwerktagung Tübingen (5.-7. Oktober 2011)
Franchi, Elena... [et al.]
Tübingen
Alexander Von Humboldt Stiftung
Formen der Identitätsprägung in der Traditionsbildung über die thessalisch-phokischen Konflikte / Franchi, Elena. - (2011), pp. 13-14. (Intervento presentato al convegno Netzwerktagung der Humboldt-Stipendiaten tenutosi a Tübingen nel 5-7.10.2011).
Franchi, Elena
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