In ihren »Lebensbild« Max Webers berichtet Marianne Weber, Max Weber habe die Werke Hippolyte Taines schon um 1902 gekannt. Diese Lektüre hätte seine späteren Überlegungen zu Religion, Geschichte und Kunst beeinflusst. Damit erhält die Beschäftigung mit Taine eine besondere Bedeutung, denn der französische Philosoph hat versucht, den Begriff »Zeitgeist« neu zu definieren – und für diesen Begriff interessierte sich auch Weber. Im Zeitgeist sind laut Taine drei Elemente enthalten: 1.) die politischen, ökonomischen, sozialen und technischen Umstände des Zeitalters, 2.) die zeitgenössischen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Empfindungen, 3.) die herrschenden Persönlichkeiten. Taines Denken steht im Zeichen einer Ambivalenz in der Beziehung zur Romantik: Einerseits sieht er in der Romantik Kraft, Leben und Revolutionsgeist, andererseits aber auch Zerrissenheit und Krankheit – sie sei eigentlich die Krankheit des Jahrhunderts, die »maladie du siècle«. Taine gilt als typischer Vertreter der soziologischen Ästhetik, die in der Schule des Positivismus entstand. Und gerade diese positivistische Tendenz macht die Ambivalenz der Beziehung zur Romantik in der damaligen Kulturphilosophie deutlich. Die Romantiker vertraten die Idee, dass der Mensch in der Kunst Wahrheit erlebte und demnach diese den Zeitgeist reflektierte. Seitens des Positivismus wurde zwar starke Kritik an dieser Vorstellung der Romantik geübt, da es sich hierbei um einen irrationalen Begriff von Wahrheit handele. Dennoch wird auch im Positivismus ein historischer Zusammenhang erkannt bzw. – gerade durch Taine – das »Milieu« betont. Der Milieu-Begriff ist der zweite unter drei Begriffsordnungen für Ursachen, die die Geschichte vorantreiben. Neben dem Milieu hebt Taine die Rasse (râce) und das Moment (moment) hervor. Rasse sei der Zusammenhang ursprünglicher und angeborener – sowohl physischer als auch psychischer – Anlagen, die die Menschen von ihren Eltern und ihrem Volk erben; Milieu sei die Umgebung, das materielle und geistige Umfeld, in dem die Menschen leben; das Moment sei die Summe aller Kräfte, die an einem bestimmten Punkt der geschichtlichen Entwicklung als Grundbedingungen für das Leben eines Menschen erscheinen. Taines Auffassung von den Ursachen der Geschichte ist insofern positivistisch, weil die Geschichtsanalyse in ein Problem der Sozialmechanik aufgelöst und jede Freiheit des Subjekts negiert wird. In der von Taines Positivismus aus entwickelten Kunstsoziologie werden menschliche Werke als bloße Objekte angesehen, deren Ursachen mit der gleichen Methode zu erforschen sind, die auch die Naturwissenschaften verwenden. Weber lehnte die positivistischen Prämissen von Taine ab. Er war sich aber mit Taine darüber einig, dass in der Kulturgeschichte Determinanten ausgemacht werden, die idealtypisch für eine historische Rekonstruktion erscheinen. Taine spricht über eine faculté maitresse (herrschende Fähigkeit), unter der freilich nicht der individuelle Charakter verstanden wird, sondern eine fundamentale geistige Disposition, ein »Typus Mensch«, dem Kunstmittel bzw. Töne, Formen, Farben oder Worte, einen für die Zeit adäquaten Ausdruck verleihen. Weber hat bekanntlich in seinen kultursoziologischen Studien danach gestrebt – wie er selbst in Bezug auf die »Protestantische Ethik« erklärt hat –, »die Entwicklung des Menschentums, welches durch das Zusammentreffen religiös und ökonomisch bedingter Komponenten geschaffen wurde«, zu analysieren.

Max Weber und die Philosophie de l'art von Hippolyte Taine / Ghia, Francesco. - STAMPA. - (2014), pp. 173-183.

Max Weber und die Philosophie de l'art von Hippolyte Taine

Ghia, Francesco
2014-01-01

Abstract

In ihren »Lebensbild« Max Webers berichtet Marianne Weber, Max Weber habe die Werke Hippolyte Taines schon um 1902 gekannt. Diese Lektüre hätte seine späteren Überlegungen zu Religion, Geschichte und Kunst beeinflusst. Damit erhält die Beschäftigung mit Taine eine besondere Bedeutung, denn der französische Philosoph hat versucht, den Begriff »Zeitgeist« neu zu definieren – und für diesen Begriff interessierte sich auch Weber. Im Zeitgeist sind laut Taine drei Elemente enthalten: 1.) die politischen, ökonomischen, sozialen und technischen Umstände des Zeitalters, 2.) die zeitgenössischen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Empfindungen, 3.) die herrschenden Persönlichkeiten. Taines Denken steht im Zeichen einer Ambivalenz in der Beziehung zur Romantik: Einerseits sieht er in der Romantik Kraft, Leben und Revolutionsgeist, andererseits aber auch Zerrissenheit und Krankheit – sie sei eigentlich die Krankheit des Jahrhunderts, die »maladie du siècle«. Taine gilt als typischer Vertreter der soziologischen Ästhetik, die in der Schule des Positivismus entstand. Und gerade diese positivistische Tendenz macht die Ambivalenz der Beziehung zur Romantik in der damaligen Kulturphilosophie deutlich. Die Romantiker vertraten die Idee, dass der Mensch in der Kunst Wahrheit erlebte und demnach diese den Zeitgeist reflektierte. Seitens des Positivismus wurde zwar starke Kritik an dieser Vorstellung der Romantik geübt, da es sich hierbei um einen irrationalen Begriff von Wahrheit handele. Dennoch wird auch im Positivismus ein historischer Zusammenhang erkannt bzw. – gerade durch Taine – das »Milieu« betont. Der Milieu-Begriff ist der zweite unter drei Begriffsordnungen für Ursachen, die die Geschichte vorantreiben. Neben dem Milieu hebt Taine die Rasse (râce) und das Moment (moment) hervor. Rasse sei der Zusammenhang ursprünglicher und angeborener – sowohl physischer als auch psychischer – Anlagen, die die Menschen von ihren Eltern und ihrem Volk erben; Milieu sei die Umgebung, das materielle und geistige Umfeld, in dem die Menschen leben; das Moment sei die Summe aller Kräfte, die an einem bestimmten Punkt der geschichtlichen Entwicklung als Grundbedingungen für das Leben eines Menschen erscheinen. Taines Auffassung von den Ursachen der Geschichte ist insofern positivistisch, weil die Geschichtsanalyse in ein Problem der Sozialmechanik aufgelöst und jede Freiheit des Subjekts negiert wird. In der von Taines Positivismus aus entwickelten Kunstsoziologie werden menschliche Werke als bloße Objekte angesehen, deren Ursachen mit der gleichen Methode zu erforschen sind, die auch die Naturwissenschaften verwenden. Weber lehnte die positivistischen Prämissen von Taine ab. Er war sich aber mit Taine darüber einig, dass in der Kulturgeschichte Determinanten ausgemacht werden, die idealtypisch für eine historische Rekonstruktion erscheinen. Taine spricht über eine faculté maitresse (herrschende Fähigkeit), unter der freilich nicht der individuelle Charakter verstanden wird, sondern eine fundamentale geistige Disposition, ein »Typus Mensch«, dem Kunstmittel bzw. Töne, Formen, Farben oder Worte, einen für die Zeit adäquaten Ausdruck verleihen. Weber hat bekanntlich in seinen kultursoziologischen Studien danach gestrebt – wie er selbst in Bezug auf die »Protestantische Ethik« erklärt hat –, »die Entwicklung des Menschentums, welches durch das Zusammentreffen religiös und ökonomisch bedingter Komponenten geschaffen wurde«, zu analysieren.
2014
Hanke E.; Leder, S.; Toumarkine, A. [...] et al.
Max Weber in der Welt: Rezeption und Wirkung
Tuebingen
Mohr Siebeck Verlag
9783161524691
Ghia, Francesco
Max Weber und die Philosophie de l'art von Hippolyte Taine / Ghia, Francesco. - STAMPA. - (2014), pp. 173-183.
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